Erfahrungen sagen mehr als tausend Worte.
Erfolgsgeschichten aus dem Klassenzimmer.
Neuanfang mit Achtsamkeit.
Im September war es so weit: neue Schule, neue Klasse, neue Klassenkameraden und eine neue Klassenlehrerin, die es sich in den Kopf gesetzt hat, die Kinder vier Jahre lang „achtsam“ zu begleiten.
Sie ahnen noch nicht, was auf sie „zukommt“. Mit dem Begriff „Achtsamkeit“ würden sie ohnehin wenig anfangen können. Mein Ziel ist es natürlich nicht, die Kinder mit der Definition des Wortes zu langweilen. Ich möchte erreichen, dass sie - durch die Praxis achtsamer Bewusstheit - fühlen, worum es hier geht: „Ein spezifischer Geisteszustand, der ein Wahrnehmen und Annehmen von allem beinhaltet, was im gegenwärtigen Moment jeweils geschieht.“ (Patricia Jennings)
Eigentlich ist es also ganz einfach: ich konzentriere mich darauf, was gerade passiert, hier und jetzt. Ob mir das „Erlebte“ gefällt oder nicht, ist nebensächlich, ich bewerte nicht, ich urteile nicht. Es geschieht einfach und ich bin „voll und ganz“ dabei. Jon Kabat-Zinn formuliert es so: „Im Grunde genommen ist Achtsamkeit ein ziemlich einfaches Konzept. Seine Kraft liegt in der Umsetzung.“
Warum ich mit meinen Schülerinnen und Schülern Achtsamkeitstraining praktizieren will, hat mehrere Gründe, die nicht uneigennützig sind. Schließlich möchte ich mit optimalen Lernbedingungen Ergebnisse erzielen, und bin ich überzeugt, dass neben der persönlichen auch die interpersonelle Achtsamkeit dazu beitragen wird. Voll motiviert versuche ich von Anfang an ein gesundes Lernklima zu schaffen, um das angenehme Beisammensein in der Klasse sowohl für mich und meine Kolleg*innen als auch für die Kinder zu gewährleisten. Dazu muss ich einiges berücksichtigen. Vor allem darf ich die Tatsache nicht vernachlässigen, dass ich eine Vorbildfunktion habe, die verpflichtet. Ich muss vorleben, was ich von den Kindern erwarte. Ich folge einem Modell, das Kooperation und pro-soziales Verhalten fördert. Soziale Werte, soziale Kompetenzen wie Freundlichkeit, Verständnis, Höflichkeit, Konfliktbewältigung sollten für die Schüler und Schülerinnen keine Fremdwörter sein. Dabei sollten sie aber auch ein gesundes Selbstmitgefühl entwickeln, das nicht mit Selbstmitleid zu verwechseln ist. Ich bemühe mich, eine Gemeinschaft aufzubauen, in der die Kinder effektiv miteinander arbeiten. Es ist mir bewusst, dass es nicht von heute auf morgen geht, diese Aufgabe zu bewältigen. Aber das geplante Achtsamkeitstraining unterstützt mich, meine Ziele gewiss zu erreichen.
Anfangsschwierigkeiten
Laut Definition ist Achtsamkeit etwas Gegenwärtiges. Ich denke nicht an die Vergangenheit und auch nicht an die Zukunft. „Jetzt“ ist im Mittelpunkt. Ist es machbar? Kann ich mich wirklich auf den Augenblick konzentrieren? Darüber wird in der Klasse diskutiert. Alle sind sich einig: „Das ist ja ur leicht!“
Na gut, wir möchten das mit einer kurzen Übung ausprobieren. Wir nehmen eine entspannte, fast aufrechte Haltung ein, machen die Augen zu und atmen regelmäßig. Ganz normal, keine tiefen Atemzüge ... Und dabei denken wir an nichts anderes, nur daran, dass wir atmen. Mir fällt ein, dass ich bei meinem ersten Mal schon Schwierigkeiten hatte, die ersten paar Atemzüge wahrzunehmen, denn meine Gedanken waren überall, nur nicht beim Atmen. Ich bin schon sehr gespannt, was die Kinder erzählen werden. Wenige Minuten später machen wir die Augen wieder auf und neugierig frage ich, wer es denn geschafft hatte, die Aufmerksamkeit auf das zu lenken, auf das wir uns konzentrieren wollten: auf die Atmung. Nur wenige Hände zeigen auf, die meisten Kinder geben zu, dass sie über Hausübungen, über Freunde, über das Abendessen und andere Sachen nachgedacht haben.
Genauso, wie ich das erwartet habe.
Patricia Jennings erklärt es so: wir sind mit unseren Gedanken nicht identisch, unser Geist hat „seinen eigenen Kopf“, das Denken läuft automatisch ab.
Wir können aber lernen, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren.
Doch warum sollen wir das tun? Abgesehen davon, dass meine Schüler*innen die Meditation spannend und lustig finden, erwarte ich von den Achtsamkeitsübungen sehr viel.
Regelmäßiges Üben soll uns allen helfen, nicht nur effektiver zu arbeiten, sondern uns selbst und unsere Umgebung besser wahrzunehmen. Eine annehmende Haltung kann entwickelt werden, die uns auch in schwierigen Situationen helfen kann, mit unseren Emotionen besser umzugehen.
Die Betonung liegt aber eindeutig auf dem Wort „regelmäßig“. Neurowissenschaftliche Ergebnisse der Forschung zu Achtsamkeit zeigen, dass „man nur mit einer kontinuierlichen Übung die Fähigkeit zur Aufmerksamkeitssteuerung und Impulskontrolle entwickeln kann, und dass eine Verschränkung von Wahrnehmung und Psychoedukation die Fähigkeit der Schüler hinsichtlich Selbstkompetenz und Selbstwirksamkeit am besten fördert.“ (Vera Kaltwasser)
Ich hoffe dabei von Anfang an auf ein positives und anregendes Lernumfeld, in dem jeder respektvoll und wertschätzend miteinander umgeht. Empathie und Mitgefühl sollten selbstverständlich sein.
Herausforderungen – Mitgefühl entwickeln
Ob die Kinder in der Lage sind, Empathie und Mitgefühl zu zeigen, können sie schon sehr früh unter Beweis stellen. Einige Wochen nach Schulanfang müssen wir von einer Mitschülerin Abschied nehmen: die Familie wandert nach Virginia aus.
Dieser Abschied fällt uns nicht leicht, die Schülerin hat wunderbar mit den anderen harmoniert. Sie hatte viele Freunde, auf sie konnte man zählen. Gleich am nächsten Tag bekommen wir schon einen neuen Schüler: Ahmed (Anm.: Name geändert). Er kommt aus Syrien. Eine interpersonelle Kommunikation ist nicht möglich. Dabei haben wir nicht nur aufgrund der sprachlichen Barriere Schwierigkeiten.
Nach kurzer Zeit zeigt sich unser neuer Schüler von einer aggressiven, auffälligen Seite. Die Hilflosigkeit in der Klasse ist spürbar. Fast ununterbrochen beschwert sich jemand über ihn. Nicht nur, dass er sich nicht an die Regeln hält – er kennt sie natürlich noch nicht wirklich -, er schlägt zu, er beschimpft viele Schüler*innen. Eine enorme Herausforderung, die es zu bewältigen gilt.
Gleichzeitig bietet sich aber die Gelegenheit, den Kindern einiges beizubringen: Wir führen lange Gespräche über Syrien, über die Situation in dem Land. Wir versuchen uns vorzustellen, in welcher Lage sich Ahmed befinden hat müssen. Was hat er vom Krieg mitbekommen? Wie war sein Alltag? Hat er Schüsse gehört? Hat er Angst gehabt? Ohne Ausnahme sehe ich an den Gesichtern, dass sie nachdenken. Sie zeigen tatsächlich Mitgefühl. Auf meine Frage, wie wir das Problem lösen können, wie wir unseren neuen Mitschüler integrieren können, bekomme ich eine großartige Antwort: gemeinsam.
Ich hoffe, dass uns eine achtsame Übung hilft, seine aktuelle Lage besser zu verstehen, und zwar mittels einer kurzen Meditation: bei geschlossenen Augen konzertiere ich mich zuerst auf die Atmung, dann stelle ich mir vor, dass ich in einem fremden Land in die Schule gehe. Ich verstehe kein Wort, „was sagen all diese fremde Leute zu mir?“ Nicht nur die Sprache, sondern alles ist anders als gewohnt. Solche Situationen können bedrohlich erscheinen: Angst entsteht, die Angst kann sich in Wut verwandeln, man reagiert aggressiv. Ahmed braucht unsere Hilfe, um seine Ängste abzubauen. Für die ganze Gemeinschaft ist es außerordentlich wichtig, dieses Problem in den Griff zu bekommen; Aggression ist nicht nur eine gefährliche Emotion, sie ist auch ansteckend. Die Praxis achtsamer Bewusstheit wird der Klasse – Ahmed ist Teil der Klasse – helfen können, weniger impulsiv zu handeln und ruhiger zu werden.
Dieser Fall hilft uns also, mehrere pro-soziale Werte zu erlernen, wie Verständnis, Empathie, Mitgefühl. Wir haben unsere Emotionen in eine positive Richtung gesteuert, unsere volle Aufmerksamkeit auf Ahmeds Probleme gelenkt. Durch die achtsame Praxis reflektieren wir auf die Bedürfnisse unseres Mitschülers. Jeder wirkt im gemeinsamen Entscheidungsfindungsprozess mit, dadurch wird die Konfliktbewältigung weiterentwickelt. Der Weg ist noch lang, mit dem Anfang bin ich aber schon sehr zufrieden.
Rituale
Mit fürsorglich ausgewählten, achtsamen Ritualen haben wir die Chance, unsere Ziele zu erreichen. Ich freue mich immer wieder auf die „Spiele“, die ich mit den Kindern durchführe. Dass ich damit nicht allein bin, beweist zum Beispiel eine Aussage eines Schülers, der mich an einem stressigen Tag - die Kinder hatten bei mir die letzte Schulstunde - gebeten hat, eine „Stillepause“ einzulegen. Ich hätte nicht glücklicher sein können.
Was ist mit Ahmed passiert?
Nach einem Jahr war er nicht mehr Teil unserer Klasse. Wir haben sehr viel von ihm gelernt und konnten ihm auch viel mitgeben. Er hat Freunde gefunden, die ihm gezeigt haben, dass er nicht allein war. Seine neuen Freunde haben die Möglichkeit gehabt, Qualitäten wie Mitgefühl, Geduld, Akzeptanz, Vertrauen zu üben. Und durch Ahmed haben diese Aspekte eine neue Bedeutung erfahren.
Es war eine schwierige, aber schöne Zeit mit ihm, und eine wunderbare Erfahrung zu sehen, dass ein Kind, dass die Schule als Institution gar nicht gekannt hatte, innerhalb einer relativ kurzen Zeit enorme Integrationsfortschritte zeigen konnte.